STAUB ESSEN SEELE AUF / Tex Rubinowitz
Und weil auch unser Geld nicht mehr reicht, und wir auch keines mehr bekommen, kaufen wir mit dem, was wir noch haben, eine Busfahrt nach Chile, dem Polen Südamerikas, und einen Plastiksack Kokablätter. Hier im Norden Argentiniens noch legal zu erwerben, als Schutz vor der gefürchteten Höhenkrankheit (Apunamiento), immerhin überwindet man auf der endlosen Schotterpiste über den Sico-Pass bis zu fünftausend Höhenmeter. Das Koka, das wie Fischfutter schmeckt, in der Backentasche gehamstert und ausgesaugt wird, soll Kurzatmigkeit, Müdigkeit und Übelkeit vorbeugen, es macht den Ungeübten aber nur gaga, bzw das was er glaubt, das es auslösen soll. Vielleicht sind es auch nur normale Baumblätter, aber woher dann der Pudding in den Beinen? Placebopudding? Ein kleiner Stopp in dem Ort San Antonio de los Cobres, die sich abwechselnden Busfahrer gehen in einer rußigen, fensterlosen Kaschemme essen. Die Passagiere, die sich nicht trauen, ebenfalls essen zu gehen, es könnte ja jeden Moment weitergehen, torkeln orientierungslos (Apunamiento?) durch die staubigen Gassen des kargen Örtchens, Kinder tragen ausgeleierte Pullover und verkaufen Drahtlamas, um die sie ein bisschen Lamahaare gewickelt haben. Im Geschäft aus Lehm: Nagellackentferner namens Nirvana und Playtex-Tampons. Es ist kalt hier oben, einsam und seltsam geräuschlos, kein Vogel piepst, nichts. Nagellackentferner, wozu? Wozu hier oben? Kurz nachdem es weitergegangen ist, verteilt der dickere von beiden Fahrern ein Essen, das so traurig aussieht (wie der arme Bruder eines Flugzeugessens), dass man es allein schon aus Mitleid isst. Kaltes Hühnerbein, muffiger, ungelüftet schmeckender Reis mit Senf, ein orange-farbenes Gelee. Kurz vor der Grenze nach Chile müssen die Blätter aus dem Fenster geschmissen oder gespuckt werden. Hier gilt das, was im Norden Argentiniens, aber auch in Bolivien und Peru Prophylaxe ist, als Droge. Die Grenze ist eine Wellblechröhre, vor ihr dämmert die Grenzkatze, schmutzigweiß, von winzigen Ameisen übersät, ein müder Ameisenomnibus. Der erste Schritt auf chilenischem Boden: ein stinkender Maul-und-Klauenseuche-Teppich. Die Abfertigung dauert lange, verständlich, nicht oft haben die hier oben arbeitenden Grenzorgane jemanden zu Besuch und die Reisenden eine willkommene Pause vom zermürbenden Eingequetschtsein im schlingernden Bus. Die erste Station in Chile nach zwölfstündiger Fahrt ist der Ort San Pedro de Atacama, in der trockensten Wüste auf Gottes Acker, hier ist nur noch Staub. Und Salz. Salzkrusten säumen Seen, an deren Rändern Flamingos nach irgendetwas grundeln. Salz? Kann man sich von Salz ernähren? Zeitigt ein Übermaß an Salz nicht Bluthochdruck? Die Kirche in San Pedro ist wie jedes andere Gebäude aus Lehm gebaut, innen aber alles aus Kaktusrindenholz, Altar, Jesus, selbst der Beichtstuhl. Vielleicht haben sie ihn nicht proper entdornt, denkbar wäre es. Vor der Kirche steht ein Brunnen, jemand hat ein Graffitto hinterlassen: WALTER, sicher hat er sich verschrieben, er meinte WATER. Es ist so trocken und staubig hier, der Staub dringt in Taschen, Falten, Ohren, Nasenlöcher, Haare, ein Invasor, der alles gründlich erobert. Und es gibt sie hier, die furchtbaren „Grenzerfahrer“, die hier herkommen zu „Wüstensandfresser-Workshops.“ Sie fahren morgens um vier mit teuer gemieteten Jeeps („Fourwheelern“) in die Wüste und „hören die Stille“, oder das „Rascheln des Staubs“ oder was auch immer („Zärtlich ist die Gegend“ steht im Alternativreiseführer, aha). Bloß weg hier. Bevor wir wieder in den Bus steigen, sehe ich noch einen etwas ratlos, relativ unkeck in der Gegend stehenden Salzspatz und dann später vom Fenster aus den unvermeidlichen Liegefahrradfahrer. Er sucht wahrscheinlich immer noch nach einem Buchverlag für sein erregendes Tagebuch „Im Liegefahrrad die trockenste Wüste der Welt durchqueren“ oder nach dem Sinn des Daseins. Der Bus schraubt sich hinunter zum Meer, durch Geisterstädte, in denen einmal Kupfer abgebaut wurde. Minenarbeiter mit Staub- oder Kupferlunge steigen zu, trockene Hände, rissige Lippen, wuchernde Ohrenhaare voller graurotem Staub, wie man es von Hummelbeinen kennt, die schwer von Blütenstaub sind. Nach weiteren 5 Stunden erreichen wir die Stadt mit dem schönen Namen Antofagasta, eine Mischung aus Murmansk, Attnang Puchheim und Kandahar. Es ist der 24. Dezember, auf der hässlichen Fußgängerstraße nichts als Geschenkpapierverkäufer. Was schenken sich die Menschen hier? In Geschenkpapier eingewickeltes Geschenkpapier? Eine Schwangere hilft einem Blinden über die Straße, auf der anderen Seite empfängt ihn ein Kirschverkäufer und führt ihn wieder zurück, um ihn in ein Taxi zu verfrachten. Die Kirschen des Kirschverkäufers sind staubig und in der Plastikschale angeordnet wie Soldaten. Ich schenke dem Blinden auf „meiner“ Seite der Straße einen Keks („Feliz Navidad“). Über der Stadt kreisen Geier. Aber das omnipräsente gefiederte Stadtmöbel ist der Pelikan, der Knabe mit dem kühlen Schnabelsack, der überall bräsig herumsitzt. Das beste Restaurant in Antofagasta ist eine chilenisch-chinesische Ausspeisungshalle namens Panda. Und hier verbringt man dann seinen heiligen Abend. Zumindest spucken die Bankomaten ohne Murren Geld aus. |